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Interview: MIDNATTSOL
Titel: Im Innersten angelangt

Mit dem vierten Album „The Aftermath“ zeigen die Hamburger Nordic Folk Metal-Ästheten ihr bislang gefühlvollstes Gesicht. Doch auch auf gesanglicher Ebene gibt es erfreuliches Neues von Midnattsoll.

So wird die norwegische Sängerin Carmen Elise Espenæs erstmalig von ihrer weltberühmten Schwester Liv Kristine begleitet. Letztere erreichte vor allem mit den Gothic Metal-Pionieren Theatre Of Tragedy und bis vor einiger Zeit mit den erfolgreichen Symphonic Metallern Leaves’ Eyes eine enorm weitreichende Popularität. Jetzt sind die beiden Blondinen also erstmalig als stimmungsvolles Duett zu genießen!

Carmen, überschwänglich gelaunt, steigt mit strahlender Freude ins Gespräch ein: „Es fühlt sich fantastisch an, die Songs nun endlich fertig zu haben und sie bald präsentieren zu können! Wir haben generell leider sehr wenig Zeit um zu feiern. Neben Job und Familie üben wir jetzt für die ersten Live-Gigs. Daneben stehen derzeit viele Interviews und Promotion-Belange für uns an. Die größte Feier ist eigentlich, wenn ich alleine im Auto fahre und die neuen Lieder volle Kanne hören, geniessen und singen kann“, platzt es aus ihr heraus, von einem breiten Grinsen begleitet.

Liv ist ebenfalls schon kräftig am Proben, wie sie offenbart.

„Wir feiern am Freitag den 25.Mai mit dem ersten gemeinsamen Konzert zur Veröffentlichung des Albums. Ich freue mich schon riesig darauf!“

Für Carmen fühlt es sich diesmal sehr besonders an, mit Midnattsol ein neues Werk zu veröffentlichen.

„Und das nicht nur, weil es so lange gedauert hat. Es stellt natürlich ein großes Ereignis für mich dar, das alles geschafft und nie aufgegeben zu haben. Doch es ist auch so außergewöhnlich, da Liv jetzt in der Midnattsol-Familie ist! Es ist wie ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Wenn man mir das vor zehn Jahren erzählt hätte, würde ich es überhaupt nicht geglaubt haben. Ich liebe ihre Stimme, ihre Persönlichkeit und vor allem auch die Kreativität, die zwischen uns und den anderen in der Band entstanden ist. Und jetzt auch noch bald die Bühne mit ihr teilen, das ist wirklich etwas Magisches!“

Wie Liv preisgibt, ist es für sie persönlich unheimlich wichtig, mit Leuten zu arbeiten und Kunst in die Welt zu setzen, denen sie vertrauen kann. „In Midnattsol gibt es eine positive Grundstimmung, wir haben Freude und Spaß am Musizieren. Etwas Schöneres gibt es nicht: Mit Carmen auf der Bühne zu stehen, das gemeinsame Anpacken, kreativ sein, und mit den Fans Musik zu teilen und zu feiern.“

Das Echo mitsamt Feedback der Fans zur Meldung, dass die neue Scheibe mit den beiden Künstlerinnen als Vokaldoppel kommt, ist einfach gigantisch, erinnert sich Liv. „Wir haben ein sehr treues Publikum und es berührt mich sehr, wie mich meine Fanclubs in den letzten zwei Jahren unterstützt haben. Im Dezember 2017 hatte ich die Gelegenheit, mich mit mehreren FanclubleiterInnen zu treffen. Das war unglaublich schön! Zudem: So oft kommt es wahrscheinlich auch nicht vor, das in einer Metalband zwei geschwisterliche Damen am Mikrophon sind.“

Die Entscheidung dazu wurde ziemlich spontan getroffen. Liv:

„Das war während der Aufnahmen bei Keyboarder Daniel Fischer. Ich bin nach Mosbach gefahren um dort in seinem Studio ‚ein paar‘ Lieder als Gastsängerin einzusingen. Es wurde immer mehr, dann gab es weitere Termine und dann haben wir es einfach entschieden.“ Wie sie sagt, wird sie auch definitiv in der Band bleiben: „Ja klar! Das macht mir einfach riesige Freude. Es ist auch interessant, wie unterschiedlich unsere Stimmen sind. Manchmal ist Carmen ‚vorne‘, manchmal ich. Und so gewinnen die Songs an Farbe, Fülle und Identität.“

Dass die weiblichen Vocals auf dem neuen Langspieler keinesfalls ausgereizt, sondern wunderbar individuell und gezielt eingesetzt werden, entstand ohne vorherige, feste Vereinbarungen, sagt Liv.

„Sondern wir haben viel eher einfach aufgenommen, was zu jedem passt. Dadurch entsteht wahre kreative Freiheit, was letztlich zu erfrischenden Ideen und letztlich optimalen Gesangslinien führt.“

Sieben lange Jahre sollte es dauern, bis nach „The Metamorphosis Melody“ endlich ein neuer Langspieler an den Start gehen kann. Carmen zieht die Rückblende:

„Ich müsste bis morgen sitzen, um alles im Detail zu erzählen. Die wichtigsten Ursachen sind neue Kapitel in unserem privaten Leben wie beispielsweise auf die Welt gebrachte Kinder, Umzug, neue Arbeit etc. Doch es gab auch musikalische Gründe wie verschiedene Meinungen zur Musikrichtung und zum Songwritingprozess. Es wurden nämlich ziemlich viele Kompositionen angefangen, jedoch nicht ganz fertig geschrieben. Es war nie unser Wunsch, Midnattsol aufzulösen, aber es war nicht einfach in der Zeit gemeinsam Lieder zu schreiben. Es hat sich jedoch in positivem Maße weiterentwickelt und wir freuen uns jetzt auf die kommende Zeit und neue Lieder.“

Für Liv besitzt „The Aftermath“ mehr Farbe, mehr Kreativität und mehr von Carmens Persönlichkeit und Ideen.

„Es gibt pfiffige, rockige Metalsongs zu hören - und folkige, emotionale Balladen, die unter die Haut gehen. Es macht mir so viel Spaß, zusammen mit Carmen zu singen, und ich glaube, das hört unser Publikum auch heraus. Das allererste Album von Midnattsol finde ich auch souverän.“

Zur ständig präsenten, teils tränensüßen Melancholie in den neuen Liedern befragt, weiß sie zu berichten:

„Für uns sind Melodien von äußerster Wichtigkeit. Wir wollen Melodien kreieren, die den Hörern etwas ganz Besonders geben können. Unsere Erfahrungen, Gedanken und Gefühle zeigen sich in den Melodien, die wir machen.“

Der diesmal deutlich angehobene Folk-Anteil entspricht voll und ganz dem Geschmack der Band, wie von Carmen zu erfahren ist.

„Unserem Gitarristen Alex Kautz und mir sind die Folksongs einfach lieber! Wir hätten den ganzen Tag im Wald vor dem Lagerfeuer Folklieder schreiben können! [lacht] Wenn er die Gitarre greift und ich dazu singe, wir einfach alles fließen lassen – es ist regelrecht zauberisch, was dann passiert. Die Freiheit, die in der Band jetzt herrscht, dass man quasi alles ausprobieren kann und sämtliche Ideen zuerst einmal zuzulassen, führte dazu, dass mehr Folk einziehen konnte.“

Alle Bandmitglieder konnten daher für „The Aftermath“ etwas wirklich Kreatives beisteuern, geht Carmen tiefer.

„Ein super Mix eigentlich. So bekamen wir auch umfassende Variation in die Lieder. Ideen und Ansätze entstanden, die anderen fügten ihren jeweiligen Anteil dazu, entwickelten und feilten, sich gegenseitig dabei weiter inspirierend. Ich liebe den Songwritingprozess, wenn man wirklich kreativ sein und alles herauslassen kann. Das ist der wahre Grund warum ich Musikerin geworden bin - ich liebe es einfach, Lieder zu schreiben und dabei zu sehen wie sich eine Idee zu einem Song entwickelt. Zum Beispiel hat Daniel das wunderschöne und für mich sehr persönliche Lied ‚The Unveiled Truth‘ geschrieben. Auf so ein Stück habe ich einfach schon immer irgendwie gewartet! Er hat von Anfang an auf ganz gewisse Weise gespürt, dass das Lied für mich richtig ist und mich gebeten, dabei mitzumachen. Ich habe sofort mitgesungen, ein echt tolles Erlebnis. Ich denke, dass Daniel sich neuerdings sowieso viel freier als zuvor bei uns fühlt und sich mittlerweile traut, auch mal ganz neue Sachen für Midnattsol auszuprobieren.“

Bei der Songauswahl für „The Aftermath“ ging die Formation ganz pragmatisch vor, wie Carmen wissen lässt. „Wir haben einerseits ganz neue Lieder geschrieben, es wurden aber auch schon vorhandene Songs aussortiert, verändert und ausgefeilt, bis alle zufrieden waren.“ Die Idee, das alte schwedische Volkslied „Herr Mannelig“ neu zu interpretieren, kam von Stephan. Carmen, dabei von einer überglücklichen Miene sinnbildlich gekrönt, schwärmt davon in den höchsten Tönen. „Er verliebte sich in die schönen, mystischen und folkigen Melodien des Liedes und hat es zu seinem eigenen Meisterwerk gemacht – neun Minuten lang! Wenn man das Stück hört, wird man in eine Welt der skandinavischen Wälder und Trolle hineingeführt.“

Es wird anschließend darüber gesprochen, was genau hinter dem Albumtitel „The Aftermath“ steckt.

Es ist, so denkt der Autor beim Ansehen des Albumcovers, ein Konzeptalbum über das Leben, Wirken und Schicksal der immer mehr gezielt denaturierten und künstlich lebenden $-Menschheit.

Umweltschutz und (spirituelle) Naturliebe also als treibendes Leitmotiv bei Midnattsol 2018?


Carmen meint freudig grinsend, sie hätte es selbst nicht besser formulieren können.

„Auf dem Cover sieht man ‚Syn‘, eine Göttin aus der nordischen Mythologie, die man mit ‚Justitia‘ vergleichen kann, ein Symbol auf Konsequenzen von unseren Handlungen. Das was wir tun, hat Konsequenzen und wir müssen aufwachen! Es geht ein lyrischer, roter Faden durch die Songs, trotzdem steht auch jeder Song für sich.“

Wie wird sich das Ganze auf unserem Planeten der Voraussicht der beiden Damen nach entwickeln, lautet die Anschlussfrage? Braucht es ein einschneidendes, globales Chaos, kurz vor der Apokalypse, damit der Homo Sapiens endlich wieder zur Vernunft kommen wird?


Liv wird direkt: „Das Chaos haben wir schon, und zwar wird das Ganze dadurch initiiert, dass in vielen Ländern ‚starke Männer‘ als Staatschefs an die Macht kommen. Das hat etwas mit der Ausbreitung narzisstischer Tendenzen zu tun. Dieser Menschentypus findet es gar nicht schwer, in der Politik und im Privatleben für andere und in Selbstregie eine Hölle auf Erden zu veranstalten und andere zu erniedrigen, zu vernichten, zu quälen. Wann machen wir endlich die Augen auf? Diese verlogenen Sadisten besitzen kaum oder wenig Empathie; sprich, denen ist es völlig egal was im ‚Aftermath‘ passiert, so lange sie göttlich, universell und ohne Hindernisse in ihrem übersteigerten Bild von sich selbst glänzen und regieren können.“


Carmen legt nach: „Bis jetzt sieht es meiner Meinung nicht so aus, als würde die Erde uns überleben. Aber ich hoffe stark, dass wir aufwachen und endlich einsehen, dass wir nicht mehr so weitermachen können wie vorher, jeder muss etwas tun! Eine winzige Sache die man machen kann: Niemals Müll in die Natur wegwerfen! Wie schwierig kann das sein? Meine Kinder, drei, fünf und 14 Jahre, werfen tatsächlich nie Müll in der Natur weg und oftmals, wenn sie Müll sehen, reagieren sie negativ darauf und schmeissen es in den nächsten Mülleimer.“

Mehr und mehr kommt bei vielen Leuten auch die Erkenntnis durch, dass sich der Mensch an sich nicht groß verändert hat über die letzten drei Jahrtausende, trotz der ganzen technischen, sozialen Errungenschaften … die Gesellschaft entwickelt sich immer schneller voran, aber immer weniger in die Tiefe.

Früher war Fortschritt vor allem moralisch orientiert, seit dem Einsetzen des Industriezeitalters geht es fast nur noch um maximale Technik, Effizienz etc., ohne Skrupel.


Liv stimmt dem Autoren zu: „Du hast recht. Der Mensch ist mit einem Gehirn ausgestattet, sprich, wir entwickeln uns und streben nach Fortschritten und Effizienz. Moralisch entwickeln wir uns tatsächlich, manchmal schneller, manchmal langsamer, aber doch stetig weiter in manchen Gesellschaften und Kulturen. Es gibt jedoch Orte auf dieser Erde, wo Frauen immer noch gesteinigt werden, wenn sie das Haus eigenständig verlassen. Gleichzeitig werden mit den effizientesten Waffen Kriege geführt. Technisch sind wir also angeblich schnell. Der Mensch kommt mit den moralischen Werten aber nicht wirklich mit und mit der maximalen Technik unterdrücken wir unsere wahre Natur. Volles Chaos. Also waren wir in der Steinzeit als Homo Sapiens unterm Strich tatsächlich weiter.“


Carmen: „Meine Meinung dazu ist, dass wir Menschen uns mehr und mehr von den wichtigsten Werten entfernen. Wie kann man sagen, dass der Mensch auf der obersten Ebene der Nahrungskette ist? Wegen Waffen und Bösartigkeit vielleicht? Die Menschheit ist die schlimmste Sache, die unserer Erde passieren konnte. Ich weiß, es ist vielleicht brutal das zu hören, und ich möchte niemanden damit verletzten, aber das ist meine Meinung. Ohne uns würden so viele Tierarten, Bäume etc. immer noch da sein.“

Wie also könnte die Menschheit wieder zu mehr Wahrheitsgehalt, Bodenständigkeit und Authentizität zurückfinden, in all den überladenen Konsum- und Massenmedien-Verblödungs-Exzessen?


„Wir sollten uns genau anschauen, wer auf der Welt regiert, über uns bestimmt und Rechte wegnimmt, und im Alltag sollte jeder für sich mehr Eigenverantwortung übernehmen. Ich fasse es nicht, wie viele Politiker an die Macht gekommen sind, denen es völlig egal ist, was auf der Erde passiert und was Menschenrechte sind“, sagt Liv. 


Auch Carmen wirkt dabei nicht wenig vom Thema betroffen:

„Ich sehe jeden Tag, was du beschreibst, ich arbeite mit Jugendlichen in einer Schule. Es ist so traurig was deren - und natürlich auch der von Erwachsenen - Fokus ist und ich versuche mein Bestes, sie alle auf das Leben vorzubereiten. Ich hätte ein Buch über das Thema schreiben können, da ich mich persönlich auch Schritt für Schritt entwickelt habe und dann die Welt mit ganz andere Augen gesehen habe. Wir müssen uns, kurz gesagt, auf die inneren Werte konzentrieren, auf das, was wirklich wichtig ist, auf das, was das Leben bedeutet. Man könnte ja wirklich fragen, wie intelligent wir eigentlich sind, wenn wir so viel Energie für unser Aussehen benutzen, für materielle Sachen und dabei uns selbst, die Welt und die Erde zerstören. Reich, erfolgreich, perfekt, sexy – das sind die ideale heutzutage. Und wozu brauchen wir das? Warum tun wir uns das an? Ich wünschte, mehr Leute würden verstehen, dass wenn man ein guter Mensch ist für sich selbst, für andere, für Tiere und für die Erde, dass man dann ein besseres Leben haben wird. Dabei muss natürlich auch erwähnt werden, dass man Leute, die einem nicht gut tun, auch nicht um sich herum haben sollte. Diese Erkenntnis gehe ich gerade in diesen Tagen auch selbst in höchstem Grade durch.“

© Markus Eck, 12.05.2018

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