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Interview: Dr. phil. Thomas Höffgen
Titel: Klärende Aufarbeitung

In seiner Eigenschaft als leidenschaftlicher Germanist fühlt sich Dr. phil. Thomas Höffgen auch der Tradition der weltberühmten Brüder Grimm verbunden, wie er mit seinem neuen Buch „Volkspoesie“ darlegt.

Schließlich beinhalten die grimmschen Märchen nicht wenig von germanischer Altertumswissenschaft, wie der innig Naturverbundene im aktuellen Werk auf lesenswerte Weise offenbart. 2017 publizierte Höffgen den ebenso seriösen Buchvorgänger „Schamanismus bei den Germanen“.

„Das Buch ist gut angekommen und 2019 in die dritte Auflage gegangen. Es hat sich zu so etwas wie einem ‚Longseller‘ entwickelt, wenn man davon nach rund zweieinhalb Jahren schon sprechen kann. Die Rückmeldungen lassen darauf schließen, dass es auch verstanden wird. Viele Leute haben sich bedankt“, resümiert der auch als großer Goethe-Liebhaber bekannt Gewordene.

Nachdem die Idee zum Buchthema des neuen Werkes erst entstanden war, sah sich Thomas vor einem ganzen Berg an Recherchearbeit, so erinnert er sich. „Als Germanistik-Student hat man mir nüchtern beigebracht, dass die volkstümlichen Überlieferungen gar nicht aus einer Zeit stammen, die ‚einmal war‘. Dies sei eine philologische Finte der Romantiker gewesen, eine Lügengeschichte der Gebrüder Grimm. Nach meinem Studium, als Doktorand und Dozent am germanistischen Institut der Universität Bochum, wollte ich es genau wissen, habe mich dem Thema eigenständig angenommen, viel geforscht, ein Seminar gegeben; die ‚Volkspoesie‘ war sogar Gegenstand meiner Disputation. Um es kurz zu machen, meine Forschungsergebnisse widersprechen der etablierten Lehrmeinung vehement und bekräftigen die alten Theorien der Gebrüder Grimm: Viele Volksmärchen lassen sich eindeutig mit germanischen Göttergeschichten verbinden, zahlreiche Volksbräuche gehen auf archaische Naturrituale zurück. ‚Und sie hatten doch recht‘, könnte auch der Titel meines neuen Buches lauten.“

Sein jetzt vorgestelltes Thema betrifft immerhin die Grundsäulen der Germanistik, sagt Thomas.

„Die Brüder Grimm sind ja die ‚Gründungsväter der Germanistik‘. Sie haben sich als erste wissenschaftlich mit der Folklore des Mittelalters und der germanischen Antike auseinandergesetzt, mit heidnischen Geschichten und Gebräuchen. Die frühgermanistische Forschung der Grimms war im Grenzbereich von Philologie und Volkskunde sowie der Europäischen Ethnologie angesiedelt. Als Germanist sehe ich mich diesem Fachverständnis und diesem Forschungsgegenstand gewissermaßen verpflichtet.“

Davon abgesehen, so ergänzt der beflissene Autor, fühlt er sich von Märchen und Mythen geradezu magisch angezogen.

„Ich denke, wenn man sich wirklich auf sie einlässt, können sie einen Einblick gewähren in die animistische Weltanschauung vormoderner Völker und archaischer Kulturen, nicht nur der Germanen, sondern der Naturvölker Europas und der ganzen Welt - Märchen sind schamanische Wirklichkeit.“

Inwieweit weiß der Großteil der heutigen Gesellschaft seiner Ansicht nach über ‚unsere’ Märchen und Mythen noch Bescheid, wird nachgefragt. Könnte man lapidar sagen: 'Märchenbücher werden noch immer allzu gerne verkauft, aber mehr wird den Leuten darüber hinaus auch nicht vermittelt‘? Thomas dazu:

„Die grimmschen Kinder- und Hausmärchen zählen zu den weltweit meistverkauften Büchern überhaupt und zum Unesco-Weltkulturerbe. Man könnte sogar sagen, die Märchen sind der letzte Rest literarischer Allgemeinbildung in unserer Gesellschaft. Sogar Hollywood hat ‚Brothers Grimm‘ verfilmt. Andererseits ist die Beschäftigung damit äußerst oberflächlich: Weit verbreitet ist die Vorstellung, die Grimms hätten diese Texte selbst geschrieben, weit verbreiteter die Vorstellung, es handele sich um primitive Kinderfantasien. Tatsächlich haben wir es mit jahrtausendealten Überlieferungen zu tun, die eine magische Weltanschauung offenbaren, welche in der Menschheitsgeschichte einen weit größeren Platz einnimmt als etwa der moderne Vernunftglaube. Aber auch die moderne Märchenforschung dreht sich meines Erachtens im Kreis und lässt neuere Erkenntnisse, die womöglich alte Theorien bestätigen, im Grunde gar nicht mehr zu. Zum Beispiel hat die emeritierte Germanistik-Professorin Erika Timm noch im 21. Jahrhundert sprachgeografisch geltend gemacht, dass es sich bei der aus dem Märchen wohlbekannten Figur Frau Holle um eine Zentralfigur der germanischen Mythologie handelt, nämlich die Ehefrau des germanischen Göttervaters Wotan, Frau Wode, wie es schon die Grimms behauptet hatten. Von der modernen Märchenforschung wird diese unerwünschte Einsicht allerdings unter den Teppich gekehrt.“

Thomas merkt nachfolgend an, dass sein neues Buch „Volkspoesie“ mitnichten nur für Akademiker geschrieben ist.

„Ganz im Gegenteil. Ich mag es nicht, wenn Sachbücher so verklausuliert und fachsprachlich ausfallen, dass sie niemand mehr versteht. Es sollte für jeden etwas dabei sein, beginnend mit einer allgemeinen Einführung in die verschiedenen Formen der Volkspoesie: Lied, Märchen, Sage, Schwank, Legende, Fabel, Volksbuch. Was ist ‚Volkspoesie‘ überhaupt und wie lässt sie sich von der ‚Kunstpoesie‘ unterscheiden? Was hat es mit der Märchenwelt auf sich, mit den Märchenwesen? Dabei taucht man ein in die wundersame Weltanschauung der romantischen Germanisten, Herder, Goethe, Novalis, Grimm. Aber auch der alten europäischen Naturvölker, Germanen, Griechen, Slawen, der alten Indoeuropäer und steinzeitlichen Schamanen.“

Das aktuelle Buch „Volkspoesie“ orientiert sich an den drei zentralen Fachbegriffen der frühgermanistischen Forschung, wie weiter vom erstaunlich belesenen Urheber ausgeführt wird. „‚Urpoesie‘, ‚Naturpoesie‘ und ‚Nationalpoesie‘, greift die damit zusammenhängenden Theorien wieder auf, rund 200 Jahre nach den Brüdern Grimm, und versucht diese auf Grundlage neuester Erkenntnisse unvoreingenommen wieder zu beleben. Mit dem Begriff ‚Urpoesie‘ ist die Vorstellung verbunden, dass sich die oral tradierte Volkspoesie auf die Mythen und Rituale der Urvölker Europas zurückführen lasse, insbesondere der Germanen. Tatsächlich lassen sich etwa ‚Frau Holle‘, ‚Dornröschen‘, ‚Hänsel und Gretel‘, der ‚wilde Jäger‘ und sogar der ‚Bi-Ba-Butzemann‘ eindeutig mit den Geschichten und Gebräuchen der Germanen in Verbindung bringen. Mit der Bezeichnung ‚Naturpoesie‘ ist die Vorstellung verbunden, dass sich die anonyme Volkspoesie quasi ‚von selbst‘ geschrieben habe und letztendlich göttlichen Ursprunges sei. Tatsächlich lässt sich diese irrational anmutende These verifizieren, wenn man sie vor dem Hintergrund zeitgenössischer Philologie und Poetologie sowie unter Berücksichtigung des romantischen Sprachgestus dechiffriert. Mit dem Begriff ‚Nationalpoesie‘ ist die Vorstellung verbunden, dass die ‚weitbeschreyte‘ Volkspoesie die Eigenart einer Ethnie spiegle, was sich in Sonderheit an der Sprache festmachen lasse. Tatsächlich wurde diese Theorie in der NS-Zeit faschistisch korrumpiert, wohingegen doch die ersten Germanisten einen internationalen und dezidiert humanistischen Ansatz verfolgten.“

Bei der Auswahl der einzelnen Themen musste Thomas mit aller Bedacht vorgehen, um individuell so konkret wie möglich zu berichten.

„Das Kapitel zum Thema Ur-Poesie zum Beispiel, in dem ich einige der Volkslieder, -Märchen und -Sagen auf Motive der germanischen Mythologie zurückführe, hätte ich unendlich weiterführen können; vielleicht erweitere ich es irgendwann einmal. Aber ich habe eine Auswahl getroffen, um das Gleichgewicht im Buch zu wahren.“

Ob ein spezieller Themenbereich beziehungsweise inhaltlicher Gegenstand seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist bei ihm wahrscheinlich stimmungsabhängig, so lässt der Mann wissen. „Alles zu seiner Zeit. Besonders reizvoll finde ich die Rückführung von volkstümlichen Texten auf vorchristliche Mythen, naturmagische Vorstellungen und schamanische Riten - ‚Ur-Poesie‘. Aber auch die Vorstellung, dass sich die Volkspoesie ‚von selbst‘ geschrieben habe, wie eine Pflanze wächst oder eine Quelle von alleine fließt - ‚Natur-Poesie‘.“

Als Thomas die Frage nach dem Lieblingsmärchen während seiner Kinderzeit beantwortet, kommt ihm ein wonniges Schmunzeln aufs Antlitz. „Meine Mutter weiß noch, dass ich ‚Hänsel und Gretel‘ immer wieder hören wollte. Und dass ich in den Märchenillustrationen immer mit dem Finger auf den Fliegenpilz gezeigt habe.“

Die Erkundigung, ob sich bei ihm durch seine Tätigkeit als Autor und Historienwissenschaftler über die Jahre etwas geändert hat in Sachen musikalische Hörgewohnheiten, erfährt eine klare Antwort. „Beim Schreiben höre ich gar keine Musik. Das würde mich ablenken. Auf der anderen Seite möchte ich mich auch beim Musikhören ganz auf die Musik einlassen können. Ich bin da ästhetischer Purist. Tatsächlich hat meine kulturgeschichtliche Forschung auch Spuren im Musikgeschmack hinterlassen: Neben Rockmusik, die für mich etwas Dionysisches hat, höre ich mittlerweile auch gerne ethnische Musik, wenn sie auf musikarchäologischen Erkenntnissen basiert.“

Ob die supranational gezielt denaturierte Menschheit jemals damit aufhören wird, Übermutter Erde schändend auszuplündern, um wieder zu sich selbst und ihrer eigentlichen, Natur-basierenden Urseele zu finden, weiß man - noch - nicht. Thomas konstatiert diesbezüglich mit aufrechter Position: „Ich betrachte die Dinge aus der Perspektive pantheistischer Naturphilosophie und plädiere für eine spirituelle Ökologie.“

© Markus Eck, 02.09.2019

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