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Interview: DORNENREICH
Titel: Vitale Unberechenbarkeit

Seit den Anfängen der Beteiligten stand dieser Bandname für eine höchst eigenwillige und völlig individuelle Variante von dunkelphilosophischer Metal-Kunst.

Das musikalische Antlitz wandelte sich dabei von Zeit zu Zeit. Kreativer Stillstand ist im Dornenreich nämlich bis heute strikt geächtet. Doch die aufrichtigen und unprätentiösen Intentionen der gefühlvollen österreichischen Avantgardisten um Sänger und Gitarrist Evíga blieben stets die gleichen.

Was 1996 mit ebenso klaren Absichten wie heute begann, das lassen die wandelbaren Tiroler Freigeister nun in das neue Album „Freiheit“ münden. Laut Evíga stellt die aktuelle Liederkollektion allerdings gleichzeitig auch die vorläufig letzte Dornenreich-Veröffentlichung dar.

Selbstfindung
„Im Moment bin ich ja mitten in der Promo-Arbeit für das Album - und es wird sich erst Ende des Jahres zeigen, wie sich diese Zäsur mit allen ihren wirklichen Konsequenzen anfühlen wird, wenngleich ich hier gleich anmerken muss, dass es für uns ja mehr eine Fokus-Verschiebung sein wird als eine tatsächliche Pause. Wir werden uns in der näheren Zukunft schlicht mehr auf sehr besondere Konzerte, in speziellem Rahmen konzentrieren. Die authentische Konsequenz aus ,Freiheit‘ bedeutet für uns, uns ganz frei zu machen. Wir haben diesbezüglich vor, uns quasi wieder neu mit künstlerischem Ausdruck bekannt zu machen, indem wir uns erst mal ganz vom Schaffensprozess lösen und das Wesen von künstlerischem Ausdruck in der Unmittelbarkeit von Konzerten erkunden. Es ist eine Art Sensibilisierung. Und zugleich drückt all das aus, wie viel in ,Freiheit‘ steckt.“

2013 hat der Musikus primär komponiert, wie er berichtet. „Ja, die detaillierte Ausarbeitung des Albums stand im Vordergrund. Denn es ist eine Sache, Ideen in Proben spielerisch zu testen und es ist eine ganze andere Sache, alles für die Aufnahmen der Stücke in einem Studio vorzubereiten. Der Weg vom Proberaum zum fertigen Album ist beschwerlich. Man braucht einen langen Atem. Was Anfang 2013 noch passierte, das waren wichtige Konzerte für uns. Es waren akustische Konzerte in Kirchen. Unvergessliche Erlebnisse. Denn unser vielschichtiger Ausdruck verbindet sich mit der Atmosphäre eines solchen Ortes zu etwas sehr Lebendigem.“

Abwechslungsreichtum
Der Vokalist sieht das neue Werk zweifelsohne als das bislang variantenreichste Album Dornenreichs, wie er darlegt.

„Und das will viel heißen, wenn man unsere bisherigen Alben kennt. Ich würde auch sagen, dass ,Freiheit‘ den plastischsten Spannungsbogen aller Alben ausgestaltet. Ich denke hier an die Wellenform des gesamten Albums, welche - deutlicher als alle bisherigen Alben - die zyklische Natur des Lebens in sich trägt. Während sich nämlich die ersten drei akustisch instrumentieren Stücke sehr intensiv mitteilen - sich die Welle aufbaut -, kommt es zwischen dem dritten Stück ,Des Meeres Atmen‘ und dem vierten Lied ,Das Licht vertraut der Nacht‘ zu einem dramaturgischen Bruch. Die Welle bricht, gibt sich hin und baut sich schließlich neu auf. Und speziell ab diesem vierten Stück ist jedes folgende Stück eine weitere Nuancierung, was die Grundstimmung und Instrumentierung der Stücke betrifft. ,Freiheit‘ ist ein musikalisch äußerst reiches Album - und das bedeutet mir viel.“

Die stilistische Mixtur der neuen Platte kann definitiv nicht gerade „Typisch Dornenreich“ benannt werden.

„Wenn es ein Markenzeichen Dornenreichs gibt, dann unsere vitale Unberechenbarkeit, die sich in dynamischem hand- und herzgemachtem Ausdruck mitteilt. Das machte schon unser Demo-Tape aus, das fragile und eigenwillige akustische Zwischenspiele aufwies. ,Freiheit‘ präsentiert nun unseren künstlerischen und menschlichen Horizont der Gegenwart. Und dieser Horizont hat sich natürlich von Album zu Album geweitet.“

Nah am Leben
Die neuen Stücke sind neben allerlei spürbarer Nachdenklichkeit zuweilen auch außerordentlich beschwingt und auf gewisse Weise Mut machend.

Evíga kommentiert:

„Ja. ,Freiheit‘ ist eine Reise, die dem Leben auf sehr unterschiedliche Weise auf der Spur ist. Und das ist es, was mir dabei selbst besonders viel gibt. Auch wenn es zum Beispiel nicht mehr viele Schreie auf dem Album gibt, so gibt es sie doch. Und sie erklingen genau dann, wenn die gesamte Botschaft es authentisch fordert und dann auch so leidenschaftlich wie selten zuvor. Die Verbindung der scheinbar gegensätzlichen Elemente des Albums, das Verhältnis dieser Elemente zueinander und ihre Gewichtung bilden für mich persönlich die besondere Kraft von ,Freiheit‘ als Album, als Erlebnis.“

Völlig intuitiv
Das derzeitige Band-Gefüge harmoniert bei Dornenreich hervorragend. „Die Aufgabenverteilung hat sich dabei über die vielen Jahre hinweg natürlich entwickelt. Die Basis aller Stücke des neuen Albums beruht wieder auf meinem Gitarrespiel, das völlig intuitiv ist. Zum Erblühen kommen die Stücke dann in enger Zusammenarbeit mit Inve und Gilvan, mit denen ich den Stücken ihre kräftigen Farben verleihe - in harmonischer, melodischer und rhythmischer wie struktureller Hinsicht.“

Angekündigt wird aktuell ein „Album der Schwellen, der Übergänge, der Verwandlungen.“ Worin sieht mein Gesprächspartner selbst die allergrößten Stärken der neuesten Kompositionen?

„Das alles scheinbar Gegensätzliche integrierende Wesen des Albums. Das Zyklische des Albums, das einer Wellenbewegung nachempfunden ist, vereint Kontraste, die darin einer lebendigen Vision zuarbeiten. Das versuchte ich zwar, schon auf früheren Alben anzudeuten, jedoch noch nie zuvor so konsequent und vielschichtig. Das Bewusstsein, das hierbei wirkt, ist eben diese Schwelle zwischen Gegensätzlichem. Diese Schwelle, die einen Moment höchster Lebendigkeit zwischen zwei kontrastierenden - sagen wir - Kräften symbolisiert, die das Leben ausmachen. Im Rahmen des Front-Covers ist dies deutlich die Schwelle zwischen Tag und Nacht.“

Höchst individuell
Der nachfolgende Dialog dreht sich darum, mit welchen lyrischen Inhalten die neuen Lieder primär gefüllt sind.

„Es geht hauptsächlich um die Bewusstwerdung des Individuums von der Kindheit, über die Jugend bis zu jenem Punkt, an dem das Bewusstsein zu einem Sprung ansetzt und innere Freiheit verwirklicht wird, der auch äußere Freiheit folgen mag. Um an dieser Stelle einige Stichwörter zu nennen, dann geht es um Intuition, Ratio vs. Gefühl, Angst, die Unterscheidung von Selbst und Ego; es geht um Vertrauen, Hingabe und Mut. All das ist natürlich höchst individuell und letztlich auch nicht in Musik einzufangen, obwohl die Musik ja eine Zeitkunst ist, will meinen, sich - auch in sich - bewegt und vollzieht; anders als ein Bild oder eine Skulptur. Die Reise des Individuums lässt sich freilich nur bis zu einem gewissen Punkt objektivieren und mittels künstlerischer Mittel grob skizzieren. Für mich gehört hierzu auch, dass ich mit Hilfe von Sprache klar über Sprache als Kommunikationsmittel hinausweisen möchte. Das wird deutlich, wenn man darauf achtet, dass die Quantität der Texte ab der Albummitte abnimmt und das letzte Stück des Albums schließlich ganz ohne Text bleibt. Es heißt: ,Blume der Stille‘. Und, ja, mir ist durchaus bewusst, dass all das esoterisch anmutet, wenn man es - wie hier - im Rahmen eines Interviews nüchtern verschriftlicht“, erzählt er mit lachender Manier.

Wahrung der kreativen Offenheit
Wie viel Zeit das gesamte Songwriting für „Freiheit“ in Anspruch nahm und wie gut die Zusammenfügung der einzelnen Ideen hierfür klappte, das lässt sich letztlich schwer sagen.

„Da die Grundstruktur mancher Stücke recht weit in die Vergangenheit reicht - die Basis von ,Blume der Stille‘ etwa entstand vor fünfzehn Jahren - und wir uns trotz sehr guter Vorbereitung auf das Studio eine Stimmung kreativer Offenheit bewahren bis zum Schluss einer Produktion. Wir veränderten also auch dieses Mal so manches Arrangement oder auch manche Melodie noch im Studio, zumal die Vision im Zuge der konkreten Aufnahmen immer klarer wird.“

„Freiheit“ - was genau steckt für Evíga persönlich hinter dem Albumtitel?

„Sich des Lebens in seinen vielen Dimensionen bewusster zu werden; wobei man sich dabei auch verrennen kann, wie ich nur allzu gut weiß. An einem gewissen Punkt - so spüre ich es persönlich - sollte man aufhören, so fieberhaft zu suchen. Es gilt, den Sprung zu wagen und sich hinzugeben; allerdings mit möglichst umfassender Sensibilität. Um all das geht es in ,Freiheit‘ - und in knappster Form steckt eine meiner zentralen Einsichten im Titel eines neuen Stückes: ,Das Licht vertraut der Nacht‘.“

Apropos, fühlt sich dieser sensible Tiroler Künstler eigentlich selbst als Individuum noch frei genug in dieser sozial oftmals sehr „faulen“ Welt?

Es folgt zunächst ein Stirnrunzeln. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich hier richtig verstehe. Jedenfalls fühlst es sich für mich grundsätzlich so an, als wüssten wir alle nicht mehr recht, was all das tiefer beziehungsweise tatsächlich meint, was wir mit sich ständig erhöhender Frequenz etwa ,Liebe‘, ,Wahrheit‘, ,Krise‘ oder ,Natur‘ nennen. Die Wurzeln von Empathie beziehungsweise Mitgefühl, worin viele Möglichkeiten warteten, liegen in einem - tatsächlich - positiven, angstfreien Selbstbezug, was selten der Fall zu sein scheint. All das beschäftigt mich. Mehr kann ich an dieser Stelle nicht dazu sagen.“

Verbindende Hingabe
Das Allerschönste beim Musikmachen ist für den Sänger und Gitarristen das Gefühl zeitloser Zugehörigkeit und Lebendigkeit, wie er bekennt.

„In diesem Gefühl bin ich ganz verbunden mit dem Sein und zwar in dem Maße, in dem ich mich hingebe. Und an diesem Gefühl möchte ich auch unser Publikum im Rahmen von Konzerten teilhaben lassen beziehungsweise es dazu einladen, sich ebenfalls ganz diesen Momenten zu widmen. Dazu, ganz anwesend und dadurch zugleich ganz abwesend zu sein, in gewissem Sinne.“

Mit dem neuen Album „Freiheit“ erfüllt sich so vieles für Evíga, wie er abschließend verkündet. „Ich bin dankbar und hege deswegen keine weiteren Hoffnungen. Allerdings wünsche ich allen unseren treuen Weggefährten da draußen, dass ihnen ,Freiheit‘ etwas geben wird können. Und ich wünsche mir für uns alle ein intensives Wiedersehen auf Tour.“

© Markus Eck, 18.04.2014

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