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Interview: ATROCITY
Titel: Eskapismus mit Herzblut

Seit jeher ja immer mal wieder für eine richtige Überraschung gut, sorgten die bekannten schwäbischen Dark Metal-Individualisten vor nicht allzu langer Zeit mit ihrer allerneuesten Veröffentlichung wieder für Staunen in den Kreisen der anvisierten Hörer. Grund? Der zweite Teil der mit großer Hingabe gemachten „Werk 80“-Reihe. Abermals widmeten sich Atrocity dafür so einigen Perlen aus dieser künstlerisch gleichfalls ereignisreichen wie auch modisch überaus turbulenten Dekade.

Und das vollzog sich dieses Mal sogar noch intensiver und orchestraler, was das ohnehin düstere Gesamtklangbild anbelangt. Atrocity sind eben sowieso eine Marke für sich. Selbst aktuell einhergegangene Besetzungswechsel konnten die Grundfeste der bereits schon so lange beständigen Bombasttruppe nicht erschüttern.

Hinter Sänger Alex Krull und seiner anhaltend treuen Dunkelmetallmannschaft liegt ein sehr turbulentes Jahr, wie der schwäbische Hüne mit der megalangen Matte wie gewohnt gut gelaunt zu berichten weiß.

„Zum einen haben wir mit Atrocity und der `Werk 80 II`-Platte ja erneut die 80er Jahre amtlich hochleben lassen. Und mit unserer zweiten Band Leaves’ Eyes haben wir ein neues Album geschrieben sowie eine DVD an den Start gebracht, welche beide 2009 veröffentlicht werden sollen. Gleichzeitig haben wir mit dem Mastersound Studio einen großen Umzug hingelegt! Ein wahrer Kraftakt. Im Moment sind wir schon dabei, wieder etwas Spezielles vorzubereiten: Nämlich eine weitere Zusammenarbeit mit meiner Schwester Yasmin, mit der wir bereits 1994 ein Ethno-lastiges Akustik-Minialbum mit Titel `Calling The Rain` aufgenommen haben, welches wie übrigens fast der gesamte Atrocity-Backkatalog im Jahr 2008 neu und remastert aufgelegt worden ist“, nutzt der Vokalist gleich noch ein wenig die Gelegenheit zur Werbung in eigener Sache.

Menschlich wurde das Jahr für den linientreuen Mann mit vielen Herausforderungen und Höhen und Tiefen durchlebt. Er stellt in diesem Kontext fest: „Was einen immer wieder aufs Neue zu dem Schluss bringt, dass die eigene Familie und nur die besten Freunde der größte Rückhalt sind. Persönliche Schicksalsschläge oder Freudentaumel teilt man am besten mit den Leuten, die einem am nächsten sind.“

Das angeregte Gespräch geht weiter in Richtung Meldungen beziehungsweise Sensationen in den Massenmedien 2008.

Berührt hat ihn daraus weniger, verärgert dafür umso mehr, so Alex.

„Natürlich ist momentan die weltweite Finanzkrise noch immer das große Thema. Überall in der Welt wird mit den Ängsten der Leute gespielt, sei es mit dem allgegenwärtigen Terrorismus und religiösem Wahnsinn oder eben mit Existenz- und Zukunftsängsten. Bitter dabei ist nun, dass die Realität immer härter zuschlägt, und die schwarzen Schafe ungeschoren davon kommen. Leute die diese Ängste schüren und Konflikte entstehen lassen, indem sie ungerechtfertigte Kriege entfachen oder durch Spekulationen und Habgier mit dem Geld anderer Leute die Welt ins Unglück stürzen, scheinen einen Freischein zu haben. Schauen wir also einmal, was der neu gewählte US-Präsident Barack Obama nun tatsächlich verändern wird. Zu wünschen wäre es jedenfalls.“

In der Tat. Abseits all dieser leidigen Miseren gab es für unseren musikbegeisterten Helden tatsächlich auch etwas, was ihn als großen Fußballfan, der er laut eigenem Bekennen nun mal ist, natürlich auch begeistert hat: Die diesjährige Fußball-EM. Doch natürlich auch noch mehr:

„Die wahrscheinlich schönste Situation im aktuell gerade zu Ende gehenden Jahr, abgesehen von familiären Dingen und der Tatsache, dass mein Sohn Leon auch gleichzeitig der Sonnenschein in unserem Leben ist, war die Tatsache, als der Studioumbau im neuen Studio abgeschlossen war und wir inmitten schönster natürlicher Umgebung die ersten Töne aufgenommen haben. Der Blick aus dem Fenster auf die postkartenähnliche Landschaft um uns herum versprühte dort einen Hauch von `Freiheit`, obwohl es bis dahin ein langer und beschwerlicher Weg gewesen ist. Ein trügerisches Bild, denn wer ist denn wirklich frei in dieser Welt?“

Wie weiter in Erfahrung zu bringen ist, durchlebten Atrocity in 2008 nicht nur frenetisch umjubelte Triumphe. Alex erinnert sich mit einem anhaltend zu sehenden Stirnrunzeln zurück:

„Gleich Anfang des Jahres hatten wir einen Dämpfer zu verkraften, als wir nämlich in Mexico City bei einem Open Air Festival aufgrund eines Stromausfalles und der dadurch resultierenden Beschädigung unseres Equipments nicht spielen konnten. Da gab es vor Ort richtig Randale seitens enttäuschter Fans, was ich verstehen kann, denn wir waren ja davon genauso enttäuscht. Mindestens genauso schlimm waren auch die Tourabsagen für unsere Schwesterband Leaves’ Eyes in den USA, beides Mal waren wir leider machtlos. Es kann also nur besser werden. Wir planen bereits im nächsten Jahr wieder nach Übersee zu gehen.“

Die schwäbischen Dark Metaller haben noch immer ein sehr familiäres Verhältnis in der Band, so Alex, und sind deshalb ein eingespieltes Team.

„Was aber nicht heißen soll, dass alles immer nur harmonisch bei uns abläuft. Rivalitäten gibt es aber keine, warum auch? Jeder weiß um die Stärken und Schwächen des anderen in der Band und die Aufgaben beziehungsweise Rollen sind bei uns klar verteilt. Mit den beiden Neuzugängen Alla am Bass und Seven am Schlagzeug kommen jetzt noch zwei weitere interessante Charaktere und Ausnahmemusiker hinzu, die zusätzlich für frischen Wind und Veränderung sorgen! Das tut uns gut, und dies verspricht mit großer Sicherheit ein weiterer spannender Abschnitt in unserer Bandkarriere zu werden.“

Ihre künstlerischen Ziele für 2008 hatten die Beteiligten wie immer mit bodenständiger Besonnenheit abgesteckt, so der Sänger. „Erst einmal waren wir froh, dass endlich die zweite `Werk 80` veröffentlicht werden konnte. Es steckt viel Arbeit und Herzblut in dieser Scheibe, und mit dem Endergebnis waren wir letztendlich sehr zufrieden. Die ganze Platte ist sehr harmonisch, musikalisch wie aus einem Guss, die symphonische Schlagseite hat dem gesamten, organisch rockenden Sound sehr gut getan und das düstere Coverartwork mit Dita van Teese als Covermodel setzt dem Ganzen das Sahnehäubchen auf.“

Apropos, das aktuelle Atrocity-Album „Werk 80 II“ läuft laut Aussage von Alex insgesamt sehr gut.

Und viele Fans zeigten sich tatsächlich davon begeistert.

„Selbst die Kritiken waren größtenteils sehr gut, andere eben weniger. Aber bei `Werk 80` scheiden sich halt manchmal die Geister, das stört uns aber nicht besonders. Wahrscheinlich haben eh nur die allerwenigsten erwartet, dass wir damit die Top 20 der deutschen Albumcharts knacken könnten. Umso dankbarer sind wir den Fans, denen wir diesen Erfolg zu verdanken haben. Für uns war dies eigentlich nur ein weiterer positiver Nebeneffekt bei der ganzen Geschichte. Wichtig für uns war die Tatsache, dass wir es schaffen würden, mit dieser `Werk 80`-Idee ein weiteres Mal etwas Aufregendes aufzunehmen. Dieses Mal symphonischer und etwas düsterer als der Vorgänger.“

Wir gehen nachfolgend zu den Live-Gigs 2008 über, welche die Band bislang spielte. „Wir hatten in diesem Jahr mit Atrocity nur ein paar ausgewählte Shows unter dem `Werk 80`-Banner gespielt. Eine davon war in Rumänien, worüber ich mich am meisten gefreut habe, denn wir spielten in der transsilvanischen Heimat meines Großvaters, in Herrmannstadt. Das war ein tolles Konzert vor über 3.500 Leuten! Toll war auch unser Gastspiel im ausverkauften Stadion beim VfB Stuttgart zu Spielbeginn der letzten Bundesligapartie der Saison. Allerdings, nachdem Nick Barker uns aus privaten Gründen verlassen musste, verliefen unsere Gigs mit Sessiondrummer anfangs etwas holprig, was mir gar nicht so gut gefallen hat. Umso mehr freue ich mich, dass wir demnächst mit unserem neuen Line-Up am Start sind, um auf Tour zu gehen. Wir sehen uns also hoffentlich alle bald auf Tour mit einer fetten `Werk 80`-Show!“

Was seinen eigentlichen Antrieb betrifft, um nach all den Jahren noch immer genau diese Art von Musik zu kreieren, da gibt sich Alex ganz locker und lässig:

„Da hat sich bei mir nicht viel verändert. In mir lodert immer noch das Feuer, der Idealismus wie früher, um diese Art von Musik zu spielen. Für mich ist das Ganze ein Lebensgefühl und nicht nur ein Hobby oder ein Zeitvertreib. Als Band wollten wir immer etwas wagen oder bewegen, in mancherlei Hinsicht ist uns das wahrscheinlich auch gelungen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Vom Erfolg alleine würde ich das allerdings auch niemals abhängig machen.“

Privat frönte der Vokalist in diesem Jahr so einigen musikalischen Veröffentlichungen, wie er erläutert. Doch die neue Slipknot-CD „All Hope Is Gone“ gefällt ihm dabei noch immer sogar sehr gut.

„Ich habe die Typen kürzlich bei ihrer Show in Stuttgart getroffen. Unser neuer amerikanischer Drummer Seven kennt die Slipknot-Jungs und die Crew ganz gut und es war ein cooler Abend. Schließlich kamen Joey und Mick völlig ins Schwärmen, als sie erzählt haben wie sie sich die ersten beiden Atrocity-Scheiben `Hallucinations` und `Todessehnsucht` pausenlos reingepfiffen und dazu gejammt haben. Das war ein sehr lustiges Gespräch. Um mal völlig abzuschalten finde ich auch Klassikradio eine sehr schöne Alternative – wobei dort leider mittlerweile auch die Werbeindustrie Einzug gefunden hat, was ich nicht so toll finde. Am Anfang war der betreffende Sender ja einfach nur schön entspannend mit klassischer Musik und vielen Soundtracks, was mir auch echt gut zur Abwechslung gefällt.“

Dann stelle ich die Gretchenfrage zum Jahresrückblick, und zwar die, wo genau Alex Silvester feiern wird. Er offenbart mit lautem Lachen:

„Wahrscheinlich werde ich diesmal ganz alleine im Studio feiern. Liv geht ja mit unserem kleinen Wikinger in den Feiertagen heim zur norwegischen Familie. Leider muss ich zuhause bleiben und im Studio noch ein paar Sachen produzieren.“

An spezielle Silvestervorsätze für dieses Jahr kann sich der Kerl laut eigenem Ermessen nicht erinnern.

„Nein, nicht das ich wüsste, das habe ich schon lange aufgegeben. Alkohol interessiert mich nicht, Drogen noch viel weniger, mit dem Zigarettenrauchen habe ich schon vor zwölf Jahren aufgehört, Vegetarier bin ich auch schon seit 20 Jahren – mit was soll ich da noch kommen? OK, sich etwas mehr Zeit für private Dinge zu nehmen, wäre wahrscheinlich der sinnvollste Vorsatz. Ich wollte gerne auch mal ein paar alte Freunde wieder treffen, aber das hat nur bedingt hingehauen. Also, man merkt, die Sache mit der `Freizeit` habe ich noch nicht so ganz in den Griff bekommen. Aber ich arbeite daran.“

Ich bitte Alex abschließend, den Lesern fürs nächste Jahr 2009 an dieser Stelle noch eine seiner liebsten Lebensweisheiten beziehungsweise -Philosophien mitzugeben. Doch der winkt dazu ganz lapidar ab:

„Keine Ahnung, ob die Welt noch irgendwelche Weisheiten braucht. Aber wie wäre es mit einer Denkaufgabe, einem Denkanstoss: Wer kann mir beantworten, wer oder was das Universum erschaffen hat und wer oder was hat den oder das erschaffen, welcher oder welches das Universum erschaffen hat, und wiederum wer oder was hat den Erschaffer des Universums erschaffen, und wer oder was wiederum letzteren usw. Also wer das wissen sollte, kann sich mal bei mir melden.“

Darauf braucht wohl keiner mehr hoffen. Denn damit hat sich auch der geniale britische Wissenschaftler und Astrophysiker Stephen Hawking bereits eingehend beschäftigt, und eine Antwort darauf blieb die „aufgeklärte“ Welt ja bekanntermaßen trotz aller großen und kleinen Religionen bis heute schuldig.

© Markus Eck, 02.12.2008

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