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Interview: END OF GREEN
Titel: Mit aller Persönlichkeit

Auf die schwäbische Pünktlichkeit ist Verlass: 1992 gegründet, feiern die Stuttgarter Dark Rocker ihr persönliches Vierteljahrhundert nun mit einem echten Sahnestück von einem Album. Das neue und neunte Langwerk „Void Estate“ fädelt sich mühelos gleitend auf den melancholisch geflochtenen Strang, den das Quintett am versiert errichteten Seelengalgen taktvoll baumeln lässt.

Die ganz große, sehnsüchtig-hungrige Schwermut war schon immer das Ding der Band. Und davon können und wollen End Of Green einfach nicht lassen. Zu groß ist der Drang der Düsterboys nach Sinn-, Selbst- und Lebenssuche. Ihren inniglichen Hang zu abgründigen, verschlingend atmosphärischen Traumspektren haben die ewigen Schwerenöter um Sänger Michelle Darkness ohnehin bereits mit der Muttermilch eingesogen, dünkt es beim ergreifenden Rezipieren der taufrischen Schmerzlieder.

Gitarrist Sad Sir lässt sich gerne mit zugeneigter Stimmung ins erste Thema des Interviewgesprächs fallen: Bandjubiläum.

„In erster Linie: Erstaunen! An sowas denkt man ja nicht. Dann zählt man mit den Fingern nach und weiß, dass man zweifelsfrei ganz schön alt ist“, spricht er lachend, „so richtig greifbar ist das alles trotzdem nicht; auch, weil sich der Zeitraum für mich nicht richtig abbilden lässt. Mir kommt die Zeit weder lang vor, noch könnte ich ernsthaft sagen, sie wäre wie im Flug vergangen. Die Band ist für mich seit Jahren immer da. Manchmal finde ich es dennoch schade, dass so viele Bands, mit denen wir früher gespielt haben, gar nicht mehr existieren. Oder wenn mich jemand in der Stadt anquatscht: ‚Also, früher hab’ ich euch immer gehört‘. Das ist auch seltsam.“

Schenkt man den dominierenden Massenmedien seine ungeteilte Aufmerksamkeit, so kann durchaus das Gefühl aufkommen, als lebte die Menschheit mittlerweile in einer regelrechten Hölle auf dieser Welt. Sad Sir beantwortet die Frage, ob er sich überhaupt noch so richtig wohl auf dem Erdenrund fühlt, lachend mit einem klaren „Jein!“


Doch dann fällt die Miene des stets Kinnbärtigen in gänzlich ernste Züge: „Ich glaube, das Weltbild steht und fällt mit den Informationen, die man tatsächlich für wichtig hält - beziehungsweise, ist mangelnde Medienkompetenz heute eventuell das viel größere Problem. Ich lese mir gerne viele unterschiedliche Artikel zu einem Thema durch, frage andere, was sie davon halten und versuche, auf diese Art eben mehr darüber zu erfahren. Auch über Positionen, die ich selbst überhaupt nicht teile. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich in einer Demokratie auch die Meinung von Idioten aushalten muss. Das ist okay. Aber auf die Demokratie und Menschenrechte werde ich nicht verzichten. Was Medien angeht: Manchmal ist die Schlagzeile nicht halb so interessant, wie zu beobachten, wer sie für seine Zwecke instrumentalisiert. Ich maße mir um Himmelswillen nicht an, alles tatsächlich verstanden oder die Weltpolitik auch nur ansatzweise durchschaut zu haben. Aber ich möchte mir Bitteschön weiterhin das Recht herausnehmen, selbst zu entscheiden, wovor ich mich beispielsweise fürchte. Ohne Quatsch, ich habe kein Stück mehr Angst vor Terrorismus als das zum Beispiel in den 90er-Jahren der Fall gewesen wäre. Ich muss mich in meiner Lebensrealität weit öfter mit Rassismus auseinandersetzen. Und da bin ich mir eben sicher: Rassismus ist eine ganzheitlich dumme Idee.“

Welchen Platz nimmt die beständige, linientreue und wunderbar unprätentiöse Notenkunst von End Of Green in dem ganzen irren, schizophrenen, heuchlerischen, törichten, gierigen Narrentreiben des modern-manipulierten, perfide ver-/ge-führten 'Homo Primitivus Sapiens' wohl für den Musikus ein, so darf man sich fragen.

Der Axeman glaubt, wie er konstatiert, Musik, Kunst, Literatur etc. sind für ihn selbst sehr gut geeignet, um jeglichen Wahnsinn einigermaßen produktiv zu bearbeiten.

„Ganz simpel: Wenn ich mit mir, der Welt und allem dazwischen hadere, dann hilft es mir ungemein, einfach etwas auf der Gitarre herumzuklimpern oder ein paar Zeilen in die Tastatur zu kloppen. Mal kommt ein Lied dabei raus und wenn nicht, fühle ich mich danach trotzdem etwas aufgeräumter. Vielleicht ist es auch unserem Alter geschuldet, dass wir uns so leicht nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wir wissen, wo wir stehen - manchmal auch weshalb - und sind da einigermaßen gefestigt. Und wird sind auch mit einem gesunden Dickschädel gesegnet.“

End Of Green haben sich alle nötige Zeit gelassen für die neue Scheibe. Der letzte Langdreher kam im Herbst 2013.

„Wenn wir aufgehalten werden, dann meistens von uns selbst. So viel Eigenverantwortung darf schon sein. Ich habe manchmal das Gefühl, dass viele Bands einfach nur konstant präsent sein wollen und dabei zu einer Art ‚Multimediale Contentmaschine‘ werden. Wenn wir was zu erzählen haben, dann reden wir. Und wenn nicht dann, dann halt nicht. [lacht] Als ‚The Painstream‘ 2013 rauskam, dauerte es keine drei Wochen, bis jemand fragte ‚Hey, wann macht ihr denn endlich eine neue Platte?‘ … und dann weiß man auch nicht, was man sagen soll.“

Um seine ganz eigene, musikalische Charakterisierung von „Void Estate“ gebeten, wird der Saitenschrubber dezent unruhig. „Schwierig. Ich befürchte, wir stecken da zu tief drin, um das vernünftig einschätzen zu können. Ich glaube, ‚Void Estate‘ klingt vordergründig etwas ruhiger, ist aber dennoch das genaue Gegenteil davon. Ich empfinde das alles als sehr aufgewühlt. Neulich sagte ein Freund: ‚abgekämpft‘. Das fand ich auch gut.“

Bei der Songauswahl fürs neue Album wurde wie immer bislang vorgegangen, so ist zu erfahren. „Wenn die Ideen zu einem guten Lied führen, kommen sie auf die Platte. Bums aus Jugendhaus. Und umso schöner ist es, wenn die Lieder zusammen ein Bild ergeben und bei ‚Void Estate‘ war das plötzlich so.“

Das Ganze hat neuerdings einen merklich feineren, noch geschmackvolleren Anstrich, lange nicht mehr so betont depressiv, abgründig und manisch verzweifelt wie früher - eher mit positiven Nuancen in all der wehmütigen, oftmals doch eher resignativ gestimmten Melancholie. Wie kam es?

„Etwas mehrdimensionaler, da stimme ich zu. Positive Nuancen im Leben sind nie eine schlechte Idee, oder? Für mich fühlt sich das dennoch alles sehr, sehr abgründig an. Vielleicht auch weil vieles fein gezeichnet ist …. Boah, das klingt jetzt unglaublich geschwurbelt, ich hör’ lieber auf. ‚Void Estate‘ zeichnet ganz gut unsere Stimmung der vergangenen Monate nach.“

Auch Michelle hat an seiner Stimme hörbar gearbeitet - klingt nun sehr viel massenkompatibler, weitgehend ‚gehobener', nicht mehr so rauchig, Reibeisen-mäßig und zerstört, bisweilen fast schon US-Alternative- bis Pop Rock-lastig.

Der Frontmann hat das Album in seinem eigenen Studio aufgenommen und selbst produziert. „Das haben wir noch nie gemacht. Und wir haben erstmals eine Platte über einen längeren Zeitraum hinweg aufgenommen. Ohne den Druck, dass Michelle trotz Erkältung singen musste, weil das Studio gebucht war.“

Als der Dialog an musikalische Einflüsse geht, die in den neuen End Of Green-Stücken ihre jeweiligen Facetten bekommen haben, fasst sich der Gitarrist gezielt kurz. Er lässt einzig wissen: „‚Crossroads‘ ist da ein interessantes Beispiel - das haben wir nicht mal selbst geschrieben, eine Coverversion von Calvin Russell. [US-amerikanischer Singer-Songwriter, gest. am dritten April 2011; A.d.A] Das Lied ist schlichtweg ergreifend und schon wieder Beleg dafür, dass in allen Ecken tolle Lieder passieren - egal, in welcher Geschmacksrichtung sie verwurzelt sind.“

End Of Green kommt es auch aktuell einzig wieder auf Lieder an, und das im wahrsten Sinne des Wortes, deklariert Sad Sir ohne Umschweife. „Ohne die sind Platten oder Konzerte völlig unnötig. Wir haben das nie mit besonderen Stilmitteln verknüpft, sondern uns stückweit selbst ein bißchen von unserer Laune tragen lassen. Und ich befürchte, dass es anders auch überhaupt nicht gehen würde. In der Hinsicht sind wir sehr wetterfühlig.“

Was genau steckt wohl hinter dem wörtlich mit ‚Leere Immobilie‘ übersetzten Albumtitel, werden sich viele fragen.

Gedanken dazu, ob die Urheber das Ganze oberbegrifflich angelegt haben könnten, vielleicht im Sinne von mentaler Leere, innerer Desolation oder geistiger Desorientierung im sozialen Kosmos, scheinen jedenfalls nicht ganz unangebracht.

Darüber hinaus damit konfrontiert, ob die Menschheit sich gar tendenziell im moralischen Vakuum befindet, wird der Blick des Griffbrettkönners auffallend klar.

„Alles davon. ‚Void Estate‘ hat zumindest bei uns jede Menge Gedanken losgetreten. Auch den, dass Leere nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss, zumindest lässt sie viel Platz, Neues zu errichten. Im Vergleich dazu, in einem Meer aus Nichts zu ertrinken, ist das zumindest die bessere Option.“

Der aufwühlende Opener „Send In The Clowns“ scheint nur zunächst ein Hilferuf nach mehr Lebensfreude in zwischenmenschlicher Tristesse der offensichtlich immer grausamer, herzloser und egomanisch ‚spaßiger‘ werdenden Gegenwart zu sein.

Sad Sir lässt verlauten: „Auch dazu hat in der Band selbst wahrscheinlich jeder grundverschiedene Visionen im Kopf. Mein erster Gedanke war: ‚Immer schön die Trottel durch die Manege jagen, herzlich über sie lachen, um ein Stückweit zu vergessen, dass man selbst der größte Clown ist.‘“

Apropos, ‚Spaßgesellschaft‘ - was denkt der Gitarrist, warum hört und liest man den nicht wenig relevanten Begriff ‚Freude‘ eigentlich nicht mehr im alltäglichen Sprach-(Wirrwarr)-Gebrauch, in der Werbung, in den Medien etc.? Könnte man salopp sagen: Tiefe, anhaltende, beglückende ‚Freude' wurde fast völlig durch oberflächlichen, kurzlebigen, gehaltlosen ‚Spaß' ersetzt … ?

„Ach, ich glaube das war schon immer so. Eine Generation schaut auf die andere und sagt ‚Ihr seid oberflächliche Dummköpfe‘. Es besteht da ja auch immer die Möglichkeit, dass man selbst die Vergangenheit etwas zu sehr verklärt. ‚Freude‘ finde ich ein schönes Wort, benutze ich gerne. Und am Ende ist es halt immer noch Auslegungssache, wer sich über was freut und warum eigentlich. Wenn ich mir die so genannte Spaßgesellschaft anschaue, kommt auf einen Mario Barth oder Dieter Nuhr ja zum Glück auch mindestens ein Louis C.K. oder Jan Böhmermann. Und da habe ich ganz nach meinem Geschmack noch immer die Wahl mich für das zu entscheiden, was mir mehr, ja, ‚Freude‘ bereitet. Und ich sag’ mal: Selbst kurzlebige Freude ist besser als gar keine. Stark, oder?“

Ebenfalls interessant betitelt ist „Mollodrome“. „Der Song dreht sich um den Tod und um einen großartigen Menschen. Und um das Gefühl nichts dagegen und nichts mehr für den Menschen tun zu können.“

Die Texte von End Of Green beruhen laut Sad Sir seit jeher auf Dingen, Umständen und Zuständen, welche die Beteiligten umtreiben.

„Das können genauso gut Beobachtungen, wie auch eigene Erfahrungen sein. Ganz platt gesagt: Das Leben. Wir sitzen aber nicht herum und nehmen uns vor, jetzt ein Lied über ein bestimmtes Thema zu machen. Lieder provozieren Gedanken und dann werden Texte draus. Mir gefällt aber, dass selbst innerhalb der Band, verschiedene Ansätze zu jedem Lied gibt - und keiner davon ist falsch oder richtig. Wenn ich ein Lieblingslied von irgendeiner Band habe, werde ich nie im Leben fragen, um was es da geht. Will ich gar nicht wissen.“


Genau das mag der Mann mit den langen Dreadlocks zum Beispiel an The Twilight Sad, wie er offenbart, den britischen Shoegaze Post Rockern.

„Die singen derart schottisch, dass ich nur einzelne Worte und Melodien aufschnappe. Da nehme ich mir die Freiheit, daraus meine eigene Geschichte zusammenzubasteln.“

Texte auf dem neuen Werk „Void Estate“, die ihm ganz besonders an die Nieren gehen, gibt es jedoch definitiv, sagt Sad Sir.

„‚Mollodrome‘, ‚The Door‘, ‚Like A Stranger‘ oder ‚Dark Side Of The Sun‘ - und ich kann nicht mal erklären weshalb das so ist. Ist einfach so.“

Bald wird es für die Formation mit ihren neuen Kompositionen auf die Bühnenbretter gehen. Für den Gitarristen zählt dabei in erster Linie, wie er wissen lässt, dass die Nummern eine Art Eigenleben entwickeln.

„Die Lieder so wie auf Platte live zu spielen, finde ich gar nicht so wichtig. Viele unserer Stücke haben live ein anderes Flair als auf Platte. Manchmal sind wir auf der Bühne weit härter als auf Platte, manchmal sogar ein bisschen leiser. Es macht Spaß, wenn ein Lied plötzlich eine neue Dynamik entwickelt. Das hält die Sache spannend. Für alle Beteiligten, hoffentlich“, wird in belachter Selbstironie kommentiert.

Ob er sich etwas Spezielles für End Of Green, primär für die neue Scheibe und insgesamt für den Rest von 2017 erhofft, das hat sich mein Interviewpartner neulich ernsthaft schon überlegt, wie er offenbart. 



„Und bin zu keinem Schluss gekommen, der gravierend anders gewesen wäre als bei allen Platten zuvor. Ich möchte, dass so viele Leute wie nur möglich diese Lieder hören, Spaß daran haben, gerne auch wenn gerade überhaupt nix mehr Freude bereitet. Darum geht’s ja eigentlich: Lieder raushauen und hoffen, dass sie nicht nur uns gefallen und irgendjemandem sogar den Tag schöner machen. Sonst könnten wir uns das ja auch gegenseitig vorspielen. Ansonsten hoffe ich, dass wir bald schon wieder neue Lieder schreiben, Platten veröffentlichen und auf Tour gehen. Das ist eine tolle Art, die Zeit zu verbringen. Und auch da ist es so: Zusammen ist man halt ein bisschen weniger alleine.“

© Markus Eck, 01.08.2017

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